Bürgerantrag
Im Frühjahr haben wir gemeinsam mit Fridays for Future einen offiziellen Bürgerantrag geschrieben und an den Rat der Stadt Lünen gerichtet.
Der Beitrag „Vom Kolonialismus zur imperialen Lebensweise“ beginnt mit einem kurzen Überblick über die Geschichte des deutschen Kolonialismus und seine Folgen. Als fortdauernde, schwerwiegende Hypothek erweist sich für die ehemaligen Kolonien vor allem die ökonomische Abhängigkeit von den vormaligen Kolonialmächten. Es wird gezeigt, welche neue Strukturen, Mechanismen und Praktiken an die Stelle von imperialer Gewaltherrschaft getreten sind. Bestanden die Druckmittel in der Kolonialzeit im Wesentlichen aus militärischer Gewalt, so beruhte die Ausübung von Macht in der Zeit danach auf ungleichen ökonomischen Beziehungen und/oder institutionalisiertem Zwang in Form von Handelsabkommen.
Im Ergebnis ist es uns – den reichen, hochindustrialisierten Gesellschaften dieser Welt – gelungen, sich wertvolle Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und ertragreiches Land anzueignen. Wir haben den Aufbau einer eigenen weiterverarbeitenden Industrie mit einer nennenswerten Wertschöpfung in den Ländern des globalen Südens blockiert. Wir lagern Kosten für die von uns verursachten Umweltschäden auf Länder und Menschen in ärmeren, weniger entwickelten Ländern aus. Unser wirtschaftlicher Erfolg und Wohlstand beruhen also darauf, Kosten für unsere eigene Lebensführung auf ärmere Länder und zukünftige Generationen zu verlagern. Als imperiale Lebensweise wird zutreffend bezeichnet, wie wir auf Kosten anderer leben. An Beispielen aus zahlreichen Wirtschaftssektoren wird aufgezeigt, welchen Preis für unsere Alltagsgüter Menschen an anderen Orten dieser Welt für unseren Lebensstil zahlen – in Form von Ausbeutung, elenden Arbeitsbeziehungen und fortschreitender Umweltzerstörung.
Eine Grundvoraussetzung für die Überwindung der imperialen Lebensweise ist die Aufklärung und die Einsicht, dass die eigenen Privilegien auf Ausbeutung und Zerstörung an anderen Stellen in der Welt basieren. Die Informationen dazu sind alltäglich präsent; doch dieses Wissen führt kaum zu einer Änderung des Verhaltens. Es scheint so banal wie schwierig, Empathie für Menschen zu empfinden, die weit entfernt sind und die man nicht kennt.
Theodor W. Adornos berühmter Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ sollte als Appell verstanden werden, sich die Differenz von richtig und falsch klar zu machen, die Wichtigkeit, sich den Sinn für das Richtige nicht nehmen zu lassen und für das Richtige zu streiten.
Abschließend werden wichtige Voraussetzungen dafür genannt, wie die zerstörerischen Wirkungen der imperialen Lebensweise überwunden werden können und der Weg zu einer solidarischen, gerechten und nachhaltigen Lebensweise eingeschlagen werden kann. Welche Aufgaben sich aus den aufgeworfenen Fragestellungen für ein zivilgesellschaftliches Arbeiten ergeben, bildet den Schluss.
Im Folgenden wird als „Globaler Süden“ die Ländergruppe der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer bezeichnet. Die Länder des „Globalen Norden“ umfassen die reichen Industrieländer.
Wer sich umfassender mit dem Thema auseinandersetzen möchte, der sei auf das Literaturverzeichnis und dort vor allem auf die Veröffentlichungen von Ulrich Brandt und Stephan Lessenich verwiesen.
1 Der deutsche Kolonialismus
1.1 Die deutsche Kolonialzeit
Über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten besaß das Deutsche Reich Kolonien. Den Eintritt in den Kreis der Kolonialmächte markierte die Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885. Der deutsche Reichskanzler Otto Graf von Bismarck hatte die diplomatischen Vertreter konkurrierender Regierungen nach Berlin eingeladen, um Regeln für die Aufteilung Afrikas aufzustellen. Die versammelten Länder schufen ein Regelwerk, das die Inanspruchnahme und Anerkennung kolonialer Territorien vorgab und damit Konflikte zwischen den konkurrierenden Staaten verhindern sollte. Mit der Unterschrift Bismarcks unter das Vertragsdokument gehörte Deutschland zu den Kolonialmächten.
Ende des 19. Jahrhunderts umfasste das deutsche Kaiserreich gemessen an der Bevölkerungszahl das viertgrößte Kolonialreich nach Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden. Den geografischen Schwerpunkt bildeten vier afrikanische Kolonien (Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda, Burundi), Kamerun, Togo). Dazu kamen kleinere Gebiete in Nordostchina (Kiautschou/China) und im Pazifik (Neuguinea und Samoa).
Wirtschaftlich ging es darum, Profite aus dem Siedlungskolonialismus und einer exportorientierten Plantagenwirtschaft zu ziehen, vor allem sollten Rohstoffe gesichert und ausgebeutet werden. Politisch wollten die Deutschen wie alle Europäer ihr nationales Prestige aufbessern und versprachen sich mehr weltpolitischen Einfluss.
Bismarck stellte die überseeischen Territorien unter den offiziellen „Schutz“ des Kaiserreichs. Die Hoheitsrechte in den neuen Besitzungen wurden meist von Kolonialgesellschaften – profitorientierten Zusammenschlüssen privater Handelsinteressen – ausgeübt.
Gewalt war ein elementarer Bestandteil des deutschen wie des europäischen Kolonialismus. Gewalt war nicht nur Mittel imperialer Expansion, sondern diente auch dazu, Herrschaft im kolonialen Alltag zu festigen. Die Errichtung und Aufrechterhaltung deutscher wie europäischer Kolonialherrschaft ergab sich direkt aus der militärischen, technischen und wirtschaftlichen Überlegenheit- Kennzeichen eines imperialen Kolonialismus.
Die systematischen Menschenrechtsverletzungen wurden durch die rassistische Ideologie legitimiert, die Weiße als höherwertig einstufte. Zugleich wurde ein „Zivilisierungsauftrag des weißen Mannes“ postuliert.
Mit der Niederlage im ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich seine Kolonien.
1.2 Folgen der deutschen Kolonialherrschaft
Für die Menschen in Afrika war der Kolonialismus eine Tragödie. Millionen wurden ermordet oder verhungerten, Dörfer wurden niedergebrannt und ganze Bevölkerungsgruppen planmäßig ausgelöscht. Die exzessive Anwendung von Prügelstrafen, die Verwendung von Kollektivstrafen und die willkürliche Konfiszierung von Besitz gehörten zum kolonialen Alltag. Rücksichtslos wurden die lokalen Strukturen zerstört. Siedlungskolonialismus und Plantagenwirtschaft griffen massiv in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der lokalen Bevölkerung ein. Land und Plantagen wurden großflächig enteignet und die Bevölkerung mit Zwang zur Arbeit verpflichtet. Die „kolonialen Herren“ haben gezielt korrupte, heimische Co-Eliten aufgebaut und so einen nachhaltigen Verfall der politischen Kultur herbeigeführt. Diese koloniale Herrschaftsform wird zu Recht als Schreckensherrschaft gegenüber der beherrschten Bevölkerung bezeichnet.
Hunderte Militärexpeditionen begleiteten die koloniale Expansion des Deutschen Reiches. Zwei gewaltsame Konflikte hatten besonders verheerende Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung: Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908) und der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika (1905-1908). Das Aufbegehren der Hereros und Nama gegen wirtschaftliche Not führte zum ersten Völkermord im 20. Jahrhundert mit insgesamt 100 000 Toten. Der Krieg und die daraus folgenden Hungersnot in Deutsch-Ostafrika kostete bis zu 300 000 Menschen das Leben.
Die Berliner Afrika-Konferenz war für die nicht eingeladenen Afrikaner eine Katastrophe, die bis heute erheblich nachwirkt. Europas Regierungen hatten sich auf ihre kolonialen Ansprüche verständigt ohne Rücksicht auf die dort lebende Bevölkerung und deren Kultur und ohne Rücksicht auf die bestehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Afrikanische Sprachen wurden als minderwertig angesehen und die Bevölkerung gezwungen die jeweiligen europäischen Sprachen zu lernen. Die Berliner Afrika-Konferenz steht bis heute als Symbol für die Willkür kolonialer Grenzziehungen.
Afrika hat durch die Versklavung seiner Bevölkerung, die Kolonialkriege und durch die Ausbeutung seiner Ressourcen unermesslichen Schaden erlitten. Wiedergutmachung für die Folgen des Kolonialismus ist bis heute kaum erfolgt. Es ist längst überfällig, Reparationen zu zahlen, das gestohlene Land und andere Ressourcen zurückzugeben, die Restitution geraubter Kulturgüter in die Wege zu leiten sowie den Kolonialismus und die Kolonialverbrechen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen.
Eine kritische Aufarbeitung der Kolonialzeit hat in Deutschland wie in ganz Europa kaum stattgefundene. Nur wenige Orte im öffentlichen Raum erinnern an die Verbrechen des Kolonialismus; auch in Schulbüchern spielt der deutsche Kolonialismus so gut wie keine Rolle.
Auch wenn der Begriff Rasse mittlerweile wissenschaftlich widerlegt ist, ist er weiterhin in vielen Köpfen verankert. Diskriminierung von Herkunft und Hautfarbe gehört auch heute noch zum Alltag vieler Menschen.
2 Strukturen, Mechanismen und Praktiken der postkolonialen Handelsbeziehungen
Die Kolonialexpansion ermöglichte es einem wachsenden Teil der deutschen Bevölkerung, vormals unerschwingliche Luxusgüter wie Kaffee, Kakao oder Tee zu konsumieren. Die Kolonien dienten als billige Bezugsquelle für Rohstoffe und Arbeitskräfte sowie als neue Absatzmärkte. Im Grunde hat sich an den ungleichen Verhältnissen auch nach der Unabhängigkeit bis heute wenig geändert und, wie in den nächsten Abschnitten gezeigt wird, sich auch kaum wird ändern können. Die ehemals abhängigen Territorien liefern weiterhin günstige Rohstoffe für den Weltmarkt und importieren ihrerseits industrielle Fertigprodukte. Eine nennenswerte Wertschöpfung findet bei ihnen nicht statt.
Geändert hat sich in der postkolonialen Zeit die Form der Ausbeutung. Die Ausbeutung beruht nicht mehr auf militärischer Gewalt, sondern neue Strukturen, Mechanismen und Praktiken stellen subtil, aber nicht minder wirksam sicher, dass die Länder des Globalen Nordens sich weltweit Natur und Arbeitskraft zu Nutze machen und dabei anfallende soziale und ökologische Kosten verlagern können.
2.1 Die „Zwangsjacke“ des Neoliberalismus und des Washington-Konsens
In den 1980er Jahren begannen sich auch auf internationaler Ebene neoliberale Grundüberzeugungen durchzusetzen. Ökonomische Probleme wurden aus einem Zuviel an Staat und einem Zuwenig an Markt erklärt.
Der Neoliberalismus prägte den „Washington-Konsens“. Dort wurden 1990 grundlegende Prinzipien für Länder festgelegt, die Hilfe vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank (WB) bei der Bewältigung von Schulden-, Währungs- oder Entwicklungsschwierigkeiten benötigten. Nach diesen Kriterien stellten wohlhabende Länder Kredite und Unterstützungen nur gegen Erfüllung von Auflagen zur Verfügung. Dazu zählten eine Marktliberalisierung, die Privatisierung von Staatsunternehmen und öffentlichen Einrichtungen, der Abbau von Subventionen und Sozialleistungen, die Aufhebung der Beschränkung für ausländische Subventionen sowie eine Deregulierung der Märkte für Kapital und Arbeit. Auf dieser Ideologie basierten dann Freihandelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme und Weltbankprojekte.
Arme Länder folgten diesem „Wirtschaftskatechismus“ und akzeptierten die „Zwangsjacke“ des Washington-Konsens, um der Isolation zu entkommen und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Eigene Prioritäten konnten sie nicht durchsetzen.
Den reichen Ländern sicherte die „Überzeugungsarbeit“ von IWF und WB günstige Rohstoff- und Lebensmittelmärkte, Absatzchancen für ihre Industrieprodukte und lukrative Anlagemöglichkeiten.
2.2 Freihandel als „Entwicklungsbremse“
Freihandel richtet großen Schaden an, wenn hochindustrialisierte Länder in freien Handel mit armen Ländern treten: Die Regeln des Freihandels verlangen von den weniger entwickelten Ländern den Verzicht von Schutzzöllen und damit einen ungehinderten Import von Industrieerzeugnissen und weiterverarbeiteten Produkten. Freihandel behindert so die Entwicklung einer einheimischen Industrie und den Aufbau eines eigenen weiterverarbeitenden Sektors. Wertschöpfung kann nicht oder allenfalls auf einem niedrigen Niveau stattfinden. Zudem fehlen Zolleinnahmen als wichtige Einnahmequelle im Staatshaushalt, um nachhaltige Entwicklungen finanzieren zu können.
Auf der Basis dieser „Freihandelslogik“ hat sich für die Länder des Globalen Nordens folgende doppelt günstige Arbeitsteilung herausgebildet: Während sich die südlichen Länder auf die Ausbeutung und den Export ( von meist unverarbeiteten und billigen Rohstoffen) spezialisieren, exportieren die nördlichen Länder teure Industrie- und Gebrauchsgüter. Dabei gewinnen die nördlichen Länder gleich doppelt: einmal an den günstigen Austauschverhältnissen (Terms of Trade) und zusätzlich dadurch, dass sie die südlichen Länder mit den ökologischen Kosten belasten, die bei der Produktion von Importgütern ( z.B. Kohle, Coltan, Rindfleisch ) entstehen.
Freihandel ist also keineswegs ein bewährtes Rezept für wirtschaftliche Entwicklung aller Länder. Das Gegenteil ist der Fall wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt:
Die vom IWF, der WB und der Welthandelsorganisation (WTO) durchgesetzten Maßnahmen zur Förderung des Freihandels benachteiligen arme Länder, indem sie deren eh schon benachteiligte Strukturen schwächen und häufig sogar zerstören.
Freihandel hat sich für viele Länder des „Globalen Südens“ als „Entwicklungsbremse“ ausgewirkt.
Exkurs zum Stellenwert von Handel und Freihandel
Grenzüberschreitender Handel zwischen Volkswirtschaften kann für die beteiligten Länder eine Reihe von Vorteilen bedeuten: Verbrauchern schafft er ein vielfältiges und günstiges Angebot, der Lebensstandard lässt sich erhöhen, Arbeit kann sinnvoll geteilt werden, er bringt Menschen in Kontakt und eröffnet neue Horizonte. Aber Handel darf kein Ziel an sich sein, darf nicht zum Selbstzweck werden. „Freihandel“ bedeutet, dass der Umwelt, der Gesundheit, den Menschenrechten und der Demokratie der Nachrang gegeben wird. Handel dagegen muss die Werte und Ziele der Völkergemeinschaft unterstützen: Das sind die Menschenrechte und Menschenwürde, die Einhaltung von Arbeitsnormen, eine gerechte Verteilung, der Klimaschutz und die Erhaltung der Arten sowie generell die Beachtung der planetaren Grenzen. Je nachdem, ob der Handel diesen Zielen dient oder diesen abträglich ist, darf und soll der Handel erleichtert und gefördert werden, erschwert und beschränkt werden – in Abwägung der Ziele und Werte, denen er dienen soll.
2.3 Die zerstörerische Wirkung der europäischen Agrar- und Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern
Das Beispiel Afrikas zeigt konkret, wie am Freihandel orientierte Abkommen die Entwicklung der Länder des Globalen Südens behindern und die Ungleichheit verstärken. Die Handelsabkommen der EU zwingen die Länder Afrikas, ihre Märkte zu öffnen und auf Zölle zu verzichten. So gelangen die hoch subventionierten und damit preiswerten Agrarüberschüsse der EU auf die afrikanischen Märkte, machen den dortigen Produzenten Konkurrenz und zerstören so die Existenz vieler Bäuerinnen und Bauern. Zu einem guten Teil bestehen die Agrarexporte aus verarbeiteten Produkten und so wird zusätzlich der Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelindustrie blockiert. Das Ergebnis überrascht nicht: Europa hat eine Spitzenstellung im Welthandel, gerade bei den Agrarprodukten. Afrikanische Länder finden sich wie zu Kolonialzeiten in der Rolle von Rohstofflieferanten und Absatzmärkte wieder.
3 Der imperiale Charakter unserer Lebensweise
3.1 Unser Leben auf Kosten anderer
Die Entwicklungsstrategien der reichen, hochindustrialisierten Gesellschaften dieser Welt beruhen darauf sich wertvolle Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und ertragreiches Land anzueignen sowie Kosten für die von ihnen verursachten Umweltschäden auf Länder und Menschen in ärmere, weniger entwickelte Weltregionen auszulagern. Bestanden die Druckmittel der Kolonialzeit im Wesentlichen aus militärischer Gewalt, sind es heute ungleiche ökonomische Beziehungen und institutionalisierter Zwang in Form von Handelsabkommen. Die weniger machtvollen Länder werden gezwungen, ihre Nationalökonomien auf die Produktions- und Wertschöpfungsmodelle der wohlhabenden Länder auszurichten. Das ist ihnen mittlerweile in vielen Wirtschafts- und Lebensbereichen gelungen wie die Beispiele zeigen: Wir nehmen die Vertreibung von Indogenen und die Zerstörung der Umwelt in Kauf, um unsere Wohnungen mit Kohle aus Kolumbien zu heizen. Wir, in den wohlhabenden Industrieländern, sind Hauptverursacher für die globale Erderwärmung und verdanken unseren Wohlstand der intensiven Nutzung fossiler Energien; die Länder des globalen Südens aber leiden am stärksten unter den Folgen der Klimakrise. Wir, in den nördlichen Ländern, nehmen überwiegend die CO2-Senken in Anspruch, die das mit der Verbrennung von fossilen Brennstoffen entstehende CO2 aufnehmen. Unser Rohstoffhunger hat mit zu den Flutungen riesiger Landstriche mit giftigen Abwässern aus der Förderung des brasilianischen Erzbergbaus beigetragen. Wir treiben die Rinderhaltung und den Sojaanbau in Südamerika durch unseren Fleischkonsum an. Unsere Plastikberge entsorgen wir in Südostasien und tausende Tonnen giftigen Elektroschrott in Ghana. Im Textilbereich profitieren wir von den Hungerlöhnen der Näherinnen in Bangladesch. Wir erfreuen uns an günstiger Schokolade und fördern die damit verbundene Kinderarbeit auf westafrikanischen Kakaoplantagen. Wir benötigen dringend Lithium, Kobalt und Coltan für die Techniken der Zukunft und verdrängen die katastrophalen Umweltbelastungen und Arbeitsbedingungen bei der Förderung dieser Rohstoffe.
So lagern wir die Kosten der eigenen Lebensführung auf ärmere Länder und zukünftige Generationen aus.
Wir- überwiegend die Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenden Länder des Globalen Nordens – muten der Bevölkerung und anderen Ländern Missstände zu, die wir bei uns niemals erdulden würden. Für diese Form der Ausbeutung hat der Soziologe Stephan Lessenich den Begriff Externalisierungsgesellschaft geprägt. Er fasst den Sachverhalt so zusammen „Wir leben gut, weil andere schlecht leben- von dem, was andere leisten, und erleiden, tun und erdulden, tragen und ertragen.“ Das ist in seinen Worten eine „imperiale Lebensweise“.
„Den eigenen Wohlstand zu wahren, indem man ihn anderen vorenthält, ist das unausgesprochene und uneingestandene Lebensmotto der „fortgeschrittenen“ Gesellschaften des „Globalen Norden “ so beschreibt er das Verteilungsprinzip der reichen Länder.
3.2 Von der militärischen zur strukturellen Gewalt
Die Länder des Südens leben weiterhin in globalen Strukturen, die Ihren Ursprung in der kolonialen Ordnung haben und sie deutlich benachteiligen. Mit ihrer politischen Emanzipation wurden die ehemaligen Kolonialländer nicht ökonomisch emanzipiert. Die koloniale Logik der Ausrichtung ganzer Volkswirtschaften und Gesellschaften auf ausländische Nutznießer – früher waren es Kolonisatoren, heute sind es die Kapitalanleger – ist im Prinzip dieselbe geblieben. Geändert hat sich jedoch der globalisierte Ausbeutungsmechanismus. An die Stelle der militärischen Gewalt und der offenen Herrschaft des Kolonialismus sind Strukturen, Mechanismen und Praktiken getreten, die die Kluft zwischen armen und reichen Ländern noch vergrößert haben.
Die aufgezeigten Ausbeutungsmechanismen lassen sich nur auf der Grundlage einer Macht-Asymmetrie in der Weltgesellschaft verstehen. Die reichen Länder verfügen über die Macht gegenüber ärmeren Ländern, ihre Interessen umfassend durchzusetzen. Ärmere Länder haben dagegen kaum eine Chance, ihre eigenen Prioritäten zu realisieren. Der norwegische Gründervater der Friedens- und Konfliktforschung Johann Galtung spricht in diesem Zusammenhang von „struktureller Gewalt“. Strukturelle Gewalt ist danach in das „System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen. Hauptform der strukturellen Gewalt ist die Ungleichheit, die ihren stärksten Ausdruck in wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen findet.“ Die Globalisierung der Wirtschaft ist der Rahmen, in dem sich die Ungleichheit wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit entfaltet hat und die immer weiter anwächst.
Die Anwendung struktureller Gewalt wirkt keineswegs still, unauffällig oder kaum merkbar- wie man meinen könnte. Sicher, anders als beim militärischen Einsatz der Kolonisatoren gibt es kein Niederbrennen von Dörfern, kein öffentliches Erhängen, keine Vergewaltigungen, Auspeitschen oder gar die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Unser Leben auf Kosten anderer bedeutet verringerte Lebens- und Überlebenschancen an anderen Stellen in der Welt. Die erhöhten Lebenschancen bei uns sind mit reduzierten Überlebenschancen anderer verknüpft. Wir leben letztlich auf Kosten der Gesundheit und Lebenserwartung der weniger Begüterten in anderen Teilen der Welt – letztendlich auf Kosten ihres Lebens. Der ugandische Wirtschaftswissenschaftler Yash Tandon, der afrikanische Staaten bei Verhandlungen über globale Wirtschaftsabkommen beraten hat, bringt es so auf den Punkt: „Handel tötet“.
Entscheidend sind die Bedingungen, unter denen Handel stattfindet.
3.3 Die Mitverantwortung afrikanischer Eliten
Der Rückzug des Globalen Nordens aus den Kolonien hinterließ dort keine demokratisch verfassten Staaten – in vielen Fällen ist das Gegenteil zu konstatieren. Die schleppende Verbesserung der Lebensbedingungen und die massive soziale Ungleichheit der afrikanischen Bevölkerung sind auch das Ergebnis von Verantwortungslosigkeit und Mitschuld der afrikanischen Eliten: Korruption, Misswirtschaft und Kapitalflucht in die sicheren Häfen außerhalb des Kontinents sind für die strukturellen und politische Probleme vieler afrikanischer Staaten mitverantwortlich. Zu der Erblast der Kolonialisierung kommt auch nach fünf oder sechs Jahrzehnten der Unabhängigkeit die Unfähigkeit in manchen afrikanischen Ländern, Führungsschichten hervorzubringen, die für das Gemeinwohl arbeiten und die Legitimität eines demokratischen Machtwechsels akzeptieren. Gestärkt werden müssen zudem Rechtsstaatlichkeit und demokratische Entwicklungen.
3.4 Daten zur imperialen Lebensweise
Die imperiale Lebensweise der Länder des globalen Nordens kann mit zahlreichen Daten und Fakten belegt werden. Die Informationen verdeutlichen, warum sich etwa 80 Prozent der Menschen den „westlichen“ Lebensstil nicht leisten können:
4 Die Überwindung der imperialen Lebensweise
4.1 Das kollektive Nicht-Wissen-Wollen
Jedem Bürger und jeder Bürgerin steht es offen, einen „ethischen“ Konsum zu praktizieren – anders zu essen, zu reisen und bewusster zu kaufen. In Zeitungen, Funk und Fernsehen, im Netz und den sozialen Medien, in zahlreichen Schulen und Kirchengemeinden ist immer wieder über die negativen Effekte unserer Lebensweise informiert und um ein anderes Konsumverhalten geworben worden. Viele Tausend ehrenamtliche Gruppen und Initiativen, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, Verbraucherberatungen, Weltläden, Öko- und Sozialsiegel haben seit vielen Jahren auf die zerstörerische Wirkung unseres Lebensstils aufmerksam gemacht und für einen verantwortungsvollen Konsum geworben. Die Vereinten Nationen haben sich mit ihren Programmen der Millenniums-Entwicklungsziele (MDG’s) und den nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 (SDG’s) für mehr Gerechtigkeit und Partnerschaft zwischen armen und reichen Ländern eingesetzt. Für die Umsetzung dieser Programme ist mit großem Aufwand auf lokaler, Landes- und auch Bundeseben geworben worden. Es fehlt also bei einem großen Teil der Bevölkerung nicht an Wissen. Es ist vielmehr eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit, Sorglosigkeit und vor allem einem Verdrängen der weltgesellschaftlichen Zusammenhänge aus unserm Bewusstsein. Man muss sich nämlich eingestehen, dass unser Wohlstand mit der Not anderer andernorts verbunden ist. Es geht darum, den eigenen Wohlstand zu wahren, indem man ihn anderen vorenthält. Es handelt sich um ein gesellschaftlich weit verbreitetes Nicht-Wissen-Wollen – auch bei denen, die sich Verhaltensänderungen bis zum persönlichen Konsumverzicht leisten können. Unser Lebensstil hat zu einem großen Teil mit Menschenwürde und Menschenrechten (für alle) häufig genug wenig zu tun. Viele Menschen dulden diese Konsummöglichkeiten und heißen sie sogar mehrheitlich gut, auch wenn sie von Minderheiten und sozialen Bewegungen in Frage gestellt werden. Das schlägt sich auch im Wahlverhalten wieder.
Eine Grundvoraussetzung für die Überwindung der imperialen Lebensweise ist daher die Aufklärung und die Einsicht, dass die eigenen Privilegien auf Ausbeutung und Zerstörung an anderen Stellen in der Welt basieren. Die Informationen dazu sind alltäglich präsent., doch dieses Wissen führt kaum zu einer Änderung des Verhaltens. Es scheint so banal wie schwierig, Empathie für Menschen zu empfinden, die weit entfernt sind und die man nicht kennt.
Theodor W. Adornos berühmter Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ sollte als Appell verstanden werden, sich die Differenz von richtig und falsch klar zu machen, die Wichtigkeit, sich den Sinn für das Richtige nicht nehmen zu lassen und für das Richtige zu streiten. Wir sind es, die Veränderungen bewirken können, die wir uns wünschen. Machen wir davon Gebrauch, dann haben wir auch eine bessere Antwort auf die Frage unserer Kinder und Enkelkinder: Ihr wusstet doch alles – was habt ihr damals unternommen?
4.2 Elemente auf dem Weg zu einer solidarischen Lebensweise
Ethischer Konsum ist ein wichtiges Zeichen für Gerechtigkeitssinn und Umweltbewusstsein. Individuelles Konsumhandeln und Betroffenheit reichen aber bei weitem nicht aus, um der „strukturellen Gewalt“ beizukommen und asymmetrische Machtverhältnisse zu ändern.
Dazu müssen die wohlhabenden Gesellschaften der Welt die Machtpraxis aufgeben, die Kosten ihrer Lebensführung auf andere auszulagern und damit Profit zu machen. Notwendig ist eine Politik, die versucht gleiche Lebenschancen im Weltmaßstab herzustellen. Mit dem Leitbild einer „Nachhaltigen Entwicklung“ hat die Brundtland-Kommission in ihrem 1987 veröffentlichten Report „Unsere gemeinsame Zukunft“ die Richtung vorgegeben. Danach liegt eine nachhaltige Entwicklung dann vor, wenn sie allen Menschen auf dem Planeten, heutigen und zukünftigen Generationen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht und dabei die planetaren Grenzen beachtet werden. Unter einem angemessenen Lebensstandard verstehen die Vereinten Nationen in ihrer „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (§25) ein soziales Existenzminimum (Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheit) für jeden Menschen und seine Familie. Gegenwärtig leben 3,3 Mrd. (40 %) unterhalb dieses Standards.
Es gilt also die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die zerstörerischen Wirkungen der imperialen Lebensweise überwunden werden können und so
der Weg zu einer solidarischen, gerechten und nachhaltigen Lebensweise möglich wird.
Wohlhabende Länder sind gefordert
Auf internationaler Ebene wird es darum gehen
Neu zu ordnen sind das globale Handelssystem sowie die internationalen Steuer- und Finanzregelungen. Gefordert sind:
Das alles sind Mammutaufgaben. Wie sollte es auch anders sein, wenn Systemfragen gestellt und Macht und Privilegien abgegeben werden sollen.
Große Widerstände sind also zu erwarten. Ein „Weiter so“ aber ist ausgeschlossen: Ein Leben auf Kosten anderer ist ethisch/moralisch nicht hinnehmbar. Die Ausbeutung von Ressourcen und Mensch und Natur in den armen Ländern stößt zudem immer häufiger an ihre Grenzen und wirkt auf uns zurück. Hinzu kommen als Folge unserer imperialen Lebensweise die weltweiten Fluchtbewegungen, auf die immer stärker mit Abschottungen reagiert wird.
Wir haben eine positive Perspektive. Wie wir leben wollen, haben wir nämlich selbst in der Hand. Entscheiden wir uns für ein ressourcenleichteres Leben.
4.3 Anregungen für zivilgesellschaftliches Arbeiten
Veranstaltungen und Aktionen zu den aufgeworfenen Themen und Fragestellungen können mit folgender Zielsetzung verfolgt werden:
Wichtig ist daher eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus (Aus- und Aufbau des Kolonialismus, die Folgen der Kolonialherrschaft: die alltägliche exzessive Gewalt, die planmäßige Auslöschung ganzer Völkergruppen, der Rassismus mit seinem scheinbar wissenschaftlich begründeten Überlegenheitsdenken, die wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die Diskussion um Wiedergutmachung (Reparation, Restitution), die bis heute andauernden, wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse)
Thematisch aufgegriffen werden können folgende Fragestellung:
– Wie machen wir vielfach tagtäglich durch unser Konsumverhalten von den Möglichkeiten des Lebens auf Kosten anderer Gebrauch?
– Welche Auswirkungen hat diese imperiale Lebensweise anderenorts und für zukünftige Generationen?
– Welche internationalen „Spielregeln“ sorgten in der Postkolonialzeit dafür, dass sich das Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Ländern immer mehr vergrößert?
– Welche Veränderungen sind notwendig, um gleiche Lebenschancen im Weltmaßstab herzustellen?
– Welche Barrieren auf dem Weg zu einer solidarischen Lebensweise sind zu überwinden?
Literatur
Brand, Ulrich und Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise, Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017
Bresky, Felber, u.a. (Hrsg): Deutscher Kolonialismus, Begleitheft zur Ausstellung, Berlin 2019
Bundeszentrale für politische Bildung: Auf Kosten anderer, Die Globalisierung in Bildern, Bonn 2020
Felber, Christian:Ethischer Welthandel, Wien 2017
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Hamburg 1975
Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut, die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016
Mabanza Bambu, Boniface: Gerechtigkeit kann es nur für alle geben, Eine Globalisierungskritik aus afrikanischer Perspektive, Münster 2009
SÜDWIND e.V. (Hrsg.): Perspektive wechseln! EU-Handels- und Investitionspolitik und die SDG in Afrika, Bonn 2017
Tandon, Yash: Handel ist Krieg, Köln 2014
Lesedauer: 20 Min.
Autor: Ulrich Weber
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